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Hinweise und Signale
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Die jeweiligen Symptome, die ein Kind entwickelt, helfen ihm in gewisser Weise,
einen inneren Ausgleich für die traumatischen Erlebnisse zu schaffen.
In dem Prozess, sich so mit der Missbrauchssituation einzurichten, dass sie
"überlebt" werden kann, lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden.
1. Phase
Am Anfang steht die Phase der Geheimhaltung und des Nichtverstehens
der Vorgänge, in der das Kind die offene oder verdeckte Aufforderung des
missbrauchenden Erwachsenen zu schweigen, befolgt und das Geheimnis und seine
Familie zu schützen versucht. Wird es in dieser Phase mit dem Thema konfrontiert,
reagiert es mit Unbehagen, versucht abzulenken oder weigert sich, etwas zu sagen.
Nicht betroffene Kinder antworten dagegen auf entsprechende Fragen mit einem
deutlichen Nein oder erklären sogar den Fragesteller für "verrückt".
2. Phase
In der zweiten Phase überwiegt das Gefühl der Hilflosigkeit:
Das Kind wird depressiv, hoffnungslos und verzweifelt. Die dem Missbraucher
oder der Missbraucherin geltende Wut wird nach innen gerichtet, da das Kind
keine Möglichkeit sieht, sich zu wehren. Es zieht sich in sich selbst zurück.
Psychosomatische Beschwerden und Lernschwierigkeiten sowie Suizidtendenzen
insbesonders bei älteren Kindern und Jugendlichen können als Folge auftreten.
3. Phase
In der nächsten Phase der aktiven Akkomodation oder Anpassung
überwiegt ausagierendes Verhalten wie Ausreißen, Aggressivität,
kriminelle Handlungen, in der Pubertät und im Jugendalter auch Promiskuität,
Alkohol- und Drogenmissbrauch. Grundlage dieses Agierens sind häufig
Spaltungsmechanismen und Bewusstseinsveränderungen, mit Hilfe derer
das Kind versucht, in seiner Persönlichkeit einen missbrauchten und einen
nicht missbrauchten Anteil zu unterscheiden oder seine Empfindungen von den
körperlichen Erfahrungen des Missbrauchs abzutrennen. Es stellt sowohl den
Versuch dar, auf sich aufmerksam zu machen und so vielleicht indirekte Hilfe von
außen zu erlangen, gleichzeitig dient es der Befriedigung von Strafbedürfnissen,
die aus der Teilnahme am Missbrauch erwachsen.
4. Phase
Erst in der vierten Phase wird es zögernd versuchen, den Missbrauch zu enthüllen,
wobei in der Regel die Angst groß ist, dass die Familie in der Folge
auseinandergerissen wird. Findet das Kind/ der Jugendliche keinen Glauben,
da es/er ohnehin schon als "Problem" abgestempelt ist, das lügt, stiehlt,
Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern unterhält und Schule oder
Ausbildung schwänzt: also nicht glaubwürdig ist, kann es zu einer weiteren
Anpassungsreaktion kommen: Das Kind nimmt die Beschuldigungen zurück!
Handelt es sich überhaupt erst um vage Vermutungen, wird ein verantwortungsvoller
Pädagoge sich selbst in jedem Fall umfassend bei Fachleuten informieren, ehe er
weitere Schritte unternimmt und zum Beispiel seine Beobachtungen und Befürchtungen
hinsichtlich eines bestimmten Kindes an Dritte weitergibt. Insofern geht es auch hier
nur darum, allgemeines Wissen im Hinblick auf mögliche Folgen von sexuellem Missbrauch
darzustellen. Die Ausführungen sollten also nicht als Aufforderungen zum Eingreifen
der Pädagogen missverstanden werden.
Für alle Altersstufen gilt: vor allem plötzliche, nicht weiter erklärbare
Veränderungen im Verhalten, in der Leistungsfähigkeit oder in der Erscheinung
des Kindes oder Jugendlichen können als Reaktionen auf traumatische Erlebnisse
wie sexueller Missbrauch auftreten.
Reinszenierung als Verarbeitung von sexuellem Missbrauch
Sexuell missbrauchte Menschen jeden Alters, die ihre seelisch traumatisierende
Erfahrung noch nicht verarbeitet haben, wiederholen diese Erfahrungen in der Realität.
Dies führt nicht zur notwendigen Verarbeitung, sondern kann im Gegenteil erneut
zu seelischen Verletzungen führen. Die neue Verletzung ist dennoch eine Erleichterung
gegenüber den sonst unausweichlichen Erinnerungen an das frühere Trauma, denn sie ist
selbst gewählt, besser kontrollierbar und oft weniger gravierend.
Die Reinszenierung traumatischer Erfahrungen ist eine Möglichkeit, Rückerinnerungen und
damit verbundene Gefühle zu vermeiden, also ein Abwehrmechanismus. Sie setzt die Dynamik
seelischer Verletzung fort, anstatt sie zu heilen. Und in dieser Dynamik sind immer
wieder dieselben Rollen zu finden: Täter, Opfer und Helfer. Erwachsene, die entgegen
ihrer Überzeugung Gewalt ausüben, sich Gewalt aussetzen oder sich zur Hilfeleistung
innerlich gezwungen fühlen, tun dies unter anderem, um belastende Gefühle abzuwehren.
Reinszenierung traumatischer Erfahrung
In der Opferrolle: Nach sexuellem Missbrauch verdoppelt sich das Risiko von
Gewalterfahrungen in der Ehe und von Vergewaltigung, wie zwei entsprechende
Untersuchungen zeigen.
In der Täterrolle: Unter Kriminellen ist der Prozentsatz derer, die als Kind
sexuell missbraucht wurden, deutlich erhöht. Es gibt Untersuchungen, deren Ergebnisse
aufzeigten, dass sexuell missbrauchte Jungen eher kriminell oder drogenabhängig werden
als andere. Eine Studie beschreibt, dass von 14 in den USA zur Todesstrafe verurteilten
Jugendlichen alle schwerst traumatisiert waren.
In der Helferrolle: Die meisten Opfer sexuellen Missbrauchs werden jedoch später
weder zu Opfern noch zu Tätern, sondern engagieren sich für dessen Beendigung aus
eigener Betroffenheit heraus besonders nachdrücklich, so dass sie dabei manchmal
selbst vergessen, sich wirksam von ihren traumatischen Erinnerungen zu befreien.
Wenn sexueller Missbrauch gesellschaftlich bekämpft und zukünftig verhindert werden soll,
können diese Reinszenierungen von Gewalt nicht einfach als gegeben hingenommen werden.
Auch kann es nicht erstrebenswert sein, etwa Situationen, in denen Männer
(als Väter oder Stiefväter) allein in engen Beziehungen mit ihren abhängigen
Kindern leben, gesellschaftlich stärker zu kontrollieren oder gar zu unterbinden,
weil sie sexuellen Missbrauch begünstigen könnten. Vielmehr ist es längerfristig
notwendig, darauf hinzuwirken, dass fürsorgliche Verantwortung und zärtliche,
nicht-sexuelle Zuwendung auch für Männer positiv bewertete Verhaltensweisen werden,
die sie in ihrer Männlichkeit nicht in Frage stellen.
Die Texte sind mit freundlicher Genehmigung der Senatsverwaltung Berlin zur
Verfügung gestellt worden. Herzlichen Dank an dieser Stelle.
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